Ihr Lieben, ich habe lange damit gehadert, ob ich möchte, dass diese Story Leute erfahren. Monatelang habe ich das verneint. Bloß nicht. Was sollen die Menschen denken? Gleichzeitig hat es mich gefangen gehalten. All die Notlügen. All die Vorsichtigkeit. Termine, die ich mit kryptischen Namen in meinen Kalender geschrieben habe, damit niemand mich fragt, was sie bedeuten. Tausende Tränen habe ich verheimlicht, bin auf dem Zahnfleisch gekrochen und als ich dachte, dass es nie aufhört, habe ich mir gewünscht morgens nicht mehr aufzuwachen. 

Stunde Null

Witzigerweise ist das hier ein zweites Kapitel zu einer Kolumne, die schon lange zurückliegt und die dunklere Seite davon, was ich damals geschrieben habe. Es geht um die „Stunde Null“. Darin habe ich erzählt, dass ich scheiße gebaut habe, dass das mir aber geholfen hat Mauern einzureißen und meine Beziehung zu meinen Eltern ganz anders zu vertiefen. Die Kolumne klang so voller Freiheit, als ich sie eben nochmal gelesen habe. Doch was für mich mitschwingt ist Heuchelei. Vielleicht habe ich damals ein bisschen gefühlt, was ich geschrieben habe, vom Hoffen und davon, dass alles besser wird. Was dann aber kam, war das Gegenteil. In der „Stunde Null“ höre ich auch Verdrängung aus Angst, Panik und Lähmung. 

Ich habe nicht die ganze Geschichte erzählt und bis zum jetzigen Zeitpunkt wissen nur zehn Menschen in meinem Umfeld davon. Warum? Aus Scham, aus Verzweiflung, aus Angst. Das hier ist meine Beichte und mein Befreiungsschlag zugleich.

Ich habe damals scheiße gebaut. Das war nach einer Party. Ich wollte nach Hause, bin sturzbetrunken mit dem Fahrrad nur wenige Meter vorwärts gekommen und dann umgefallen. Das hat ein Passant gesehen und die Polizei gerufen. Nach einer Atem-Alkoholkontrolle wollten mich die Polizisten mit aufs Revier nehmen; glücklicherweise musste ich mich dann übergeben und es ging stattdessen ins Krankenhaus. Am nächsten Morgen war ich auf dem Heimweg, wusste kaum was passiert war und musste mich erstmal versuchen zu sortieren. In dem Zusammenhang habe ich meinen Eltern dann die Sache mit der Diagnose erzählt. Das war die Story aus der vorherigen Kolumne. 

Die Wahrheit

Was dann aber kam, habe ich versucht zu hüten wie meinen Augapfel. Kein Sterbenswörtchen ist mir über die Lippen gekommen. Fast anderthalb Jahre lang. Das Stichwort ist „Atem-Alkoholkontrolle“. Im Krankenhaus wurde noch der Blutalkoholwert kontrolliert. Ist auch eigentlich egal und ich kürze mal ab: ich habe meinen Führerschein verloren. Ehrlich gesagt war mir nicht bewusst, dass das überhaupt geht, wenn man nur Fahrrad fährt. Aber so war es. 

Daraufhin erreichten mich gerichtliche Briefe; ich habe das erste Mal einen Anwalt gebraucht. Ich war völlig unter Schock, extrem enttäuscht, fühlte mich hilflos und nackt. Der ganze Prozess fühlt sich im Nachhinein an wie ein Film mit Grauschleier. 

Meine größte Aufgabe war es dann meinen Führerschein wiederzubekommen. Und das war ein Akt. Alles in allem musste ich 12 Monate Alkoholabstinenz nachweisen, einen Kurs belegen, 4 Haarproben abgeben, die MPU ablegen und Unmengen an Geld zahlen. Das klingt nach Fakten, aber dahinter standen 14 Monate voller Angst, Scham und Schmerz. 

Der Schmerz

Ich weiß nicht, was am schlimmsten war. Es war alles auf seine Weise grausam. Das Rausreden aus dem Alkoholtrinken ging erstaunlich gut, nicht zuletzt wegen Corona. Trotzdem hatte ich jedes Mal Angst und ein schlechtes Gewissen, wenn ich gelogen habe. Hier war aber eher meine Psyche das Problem. Ich hatte Alpträume ohne Ende, in denen ich aus Versehen Alkohol trinke oder Pralinen esse. Oder dass in meinem Shampoo Alkohol ist, der sich absetzen könnte, oder oder oder. Ich habe mich extrem überwacht gefühlt und ausgeliefert und ich hatte irgendwann das Gefühl, ich könne mein Leben nicht selbst bestimmen. 

Alkoholabstinenz kann man über Haarproben nachweisen. Das habe ich gemacht. Ich bin also alle 3 Monate zu einem Arzt vom TüV gegangen und habe mir bleistiftdicke Haarsträhnen an der Haarwurzel abschneiden lassen. Die wurden dann analysiert. Da habe ich mich entwürdigt gefühlt. Nicht mal meine Haare waren mehr mein Bereich. Ich musste mich ausliefern. Dazu kam die Angst man könne die kahlen Stellen sehen. Später wurden das dann Stitze. Da musste ich meine Haare immer extra auf eine bestimmte Weise tragen, damit man sie nicht sieht. 

Auch der Kurs war schlimm für mich. In meine bestehende Wunde hat er nur Salz gestreut. Ich war endgültig mit meiner Unperfektheit und Unzulänglichkeit konfrontiert und war am Boden zerstört. Dann musste ich das Geschehene aufarbeiten, mich mit Themen wie Drogen und Sucht auseinandersetzen und kam mir vor wie der größte Verbrecher, den es gibt. Ich war nicht bereit zum Aufarbeiten. Aber ich musste durch. 

Und dann das Geld. Ich liege meinen Eltern sowieso auf der Tasche. Mein ganzes Studium schon. Nun war ich auf ihre Güte angewiesen und sie haben mich die ganze Zeit unterstützt. Und ich kam mir so schäbig vor. Undankbar, dumm und als Last. Ich bin meinen Eltern so dankbar. Sie waren mir die ganze Zeit die größte Stütze.

Am Ende

Im Dezember war es dann endlich vorbei. Ich hatte bestanden. Alles war irgendwie gut. Und ich bin zu meinen Eltern gefahren und habe einfach nur geweint. Stundenlang. Aus mir flossen alle Emotionen, die ich nie zugelassen hatte. Alle Scham, alle Angst. Alles konnte aufhören. Ich habe während der Zeit wenig darüber geweint. Das habe ich alles verdrängt, denn ich habe es nicht ertragen. Die Scham war zu groß. 

Die Scham war auch zu groß, um andere Menschen teilhaben zu lassen. Ich habe es nur Menschen erzählt, von denen ich wusste, dass sie wenig Beziehung zu den meisten und engsten Leuten in meinem Leben haben. Da war eine Barriere. Ich konnte das nicht. Ich wollte mir meine heile Gemeinde- und Freunde-Blase aufrecht erhalten, in der ich das Thema ausgeschlossen habe. Das war dumm und feige. Ein Versteckspiel. Ein Lügengerüst. Und eine riesige Mauer.
Es tut mir leid, dass ich so ein belastendes Erlebnis nicht mit engen Freunden geteilt habe. Ich habe mich verschlossen und verweigert, dass Menschen Anteil haben können. Vielleicht hätte es das auch für mich einfacher gemacht. 

Jetzt ist es jedenfalls vorbei. Und hier ist meine Beichte. Ich würde gerne sagen, dass das meine Beziehung zu Gott stärker gemacht hat, vielleicht ohne dass ich es merke. Aber auch vor ihm habe ich abgeblockt. Auch ihm hab ich das Tor verschlossen. 

Also gab es nach außen die happy Lobpreis-Marie, die so tut als wäre nichts. Und nach innen war ich die Marie, die sich in der hintersten Ecke versteckt, damit niemand sieht, wie tief die Wunden sind. Das will ich nicht mehr und hier ist ein Schritt dagegen. Hier ist meine Wunde und hier ist meine Scham. Und jetzt darf ich heilen.