Im Sommerurlaub in einem kleine Dorf in Slowenien saß ich mit meinem Freund vor einem Wasserfall in den Bergen. Vor uns fiel das Wasser achtzehn Meter in die Tiefe und um uns herum waren außer Wald und Bergen ab und zu nur ein paar andere Wanderer. Wir hatten unsere Füße schon in das kalte Wasser gesteckt und waren gerade am überlegen, ob wir ein kleines Bad nehmen sollten. Ich mag kaltes Wasser nicht so besonders gerne und war deshalb noch nicht ganz überzeugt. 

Wir saßen noch eine Weile auf einer Bank und schauten dem fallenden Wasser zu, da fiel mir wieder eine Frage ein, die ich mir schon öfter gestellt hatte und so drehte ich mich herum und fragte: „Schatz, hast du schon mal darüber nachgedacht, dass der Wasserfall für unsere Augen vielleicht nicht gleich aussieht? Das deine und meine Augen verschieden sind und wir die Welt vielleicht ein wenig unterschiedlich sehen?“

Ich finde es faszinierend, dass ich tatsächlich nicht wissen kann, wie ein andere Mensch die Welt sieht. Vielleicht wäre das Wasser für dich etwas blauer gewesen, der Fels etwas mehr braun statt grau und der Baum erscheint deinem Auge als ein etwas anderer Grünton. Ich weiss nicht, wie die Welt in deinen Augen aussieht, weil ich nunmal nicht durch deine Augen sehen kann. Ich habe nur meine zwei Augen, die die Welt auf meine Weise betrachten. 

Genauso, wie unsere Augen verschieden geschaffen sind, denke ich auch, dass Gott uns unterschiedliche Sicht auf die Fragen und Probleme dieser Welt gegeben hat. Er hat uns verschieden geschaffen. Dir fallen andere Dinge auf als mir, Dir sind andere Dinge wichtig als mir. Deine Geschichte und Prägung, die guten und schlechten Erfahrungen, die Du in deinem Leben gemacht hast, die Menschen, die dich umgeben – all das definiert wie Du die Welt siehst. 

Ich habe gerne Recht und mir fällt es oft gar nicht leicht, mir die Gedanken und Meinungen anderer ernsthaft anzuhören und mich darauf einzulassen, ihrem Standpunkt Gewicht zu geben. Dennoch merke ich, dass jedes Mal, wenn ich es schaffe zuzuhören und einen neuen Blickwinkel zu betrachten, am Ende ich meist in meiner eigenen Sicht eine neue Facette hinzu gewonnen habe. Der einzige Weg, wie ich rausfinden kann, wie ein anderer Mensch die Welt sieht, ist indem ich ihn nach seiner Sicht frage.

Der Wasserfall war so viel schöner und wertvoller, weil wir zu zweit davor saßen und mit zwei Paar Augen eine viel größere Vielfalt an Details entdecken konnten. Jemand anderem meine Sicht zu erklären, auszusprechen was ich sehe und mich an der Schönheit der kleinen Details zu freuen, gibt dem Gesehenen unendlich viel mehr Wert. Und weil es nur einen Menschen gibt, der die Welt durch deine Augen sieht, solltest Du dir immer wieder Zeit nehmen, deine Gedanken mit anderen zu teilen.

Und ja, wir sind am Ende in den Wasserfall gesprungen. Es war eiskalt und wunderbar.