Es ist schon eine ganze Weile her, als meine Tochter zuletzt in einem Geschäft völlig ausgerastet ist. Doch ich kann mich noch an einen Satz erinnern, den eine ältere Dame ihrer Begleitung zugeraunt hatte, als sie an uns vorbei gingen: „Unerzogene Gören heutzutage, armes Deutschland.“ Ich bluffte sie mit einem unüberlegten Kommentar zurück, dass sie keine Ahnung hätte oder so.
Aber, wie es so oft ist, kam wir wenige Augenblicke später der deutlich bessere Konter: „Das Kind ist gerade in Not und ich steh ihr bei, das hat nichts mit mangelnder Erziehung zu tun! Sie darf ihre Gefühle fühlen, solange sie sich und anderen nicht damit schadet.“ Doch die Frau ging weiter, ohne diesen Satz zu hören und ist vermutlich noch immer der Meinung, dass die Kinder und Jugend von heute vollkommen verdorben wird durch die lasche Erziehung. Man solle sich doch zusammenreißen in der Öffentlichkeit und ohne Wenn und Aber auf Autoritätspersonen hören.
Innere Not
Gefühle gehören nicht an die Öffentlichkeit und wenn sie durchbrechen, werden sie ganz schnell weggeprügelt.
Der Gedanke, dass dies einfach die Realität von so vielen Generationen war und auch heute noch seine Spuren zieht, bricht mir das Herz. Denn in meiner Reise als Mutter bisher habe ich gelernt, dass sowohl diese großen Gefühle als auch vermeintliches Fehlverhalten eigentlich aus einer großen inneren Not des Kindes heraus entstehen. Kein Kind möchte seine Eltern nerven, manipulieren, gegen sich bringen. Ihr Überleben ist von uns und unserem Wohlwollen ihnen gegenüber abhängig. Doch was bringt sie zu diesem Verhalten, das uns so in den Wahnsinn treiben kann, wie sich quer zu stellen und „Nein!“ zu brüllen, wenn man es morgens ganz eilig hat oder abends immer wieder aus dem Bett zu rennen und kreischen, wenn etwas nicht so läuft wie sie es sich vorstellen? Dies alles sind wirklich nervige Alltäglichkeiten von Eltern mit (kleinen) Kindern, aber alle auch wichtige Botschaften, die näher betrachtet werden sollten.
Bindung ist essenziell
Kinder kommunizieren ganz deutlich mit uns, nur sehr selten nutzen sie Worte dafür. Wenn wir also voll in unseren Themen stecken, in Gedanken bei der Arbeit, bei dem Zeitdruck, bei den Erwartungen anderer sind, oder was andere denken, dann ist es fast unmöglich, voll und ganz bei dem Kind zu sein. Und das ist auch ok, wenn es mal so ist, ein Kind braucht nicht ununterbrochen unsere volle Aufmerksamkeit, das wäre auch gar nicht machbar. Aber es braucht diese essenziellen Bindungsmomente, wo es wirklich ohne Ablenkung wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Je nach Entwicklungsstand und Persönlichkeit füllen unterschiedliche Dinge den Bindungstank der Kinder, aber eines beschäftigt jedes Kind: Bin ich ok so wie ich bin? Bin ich sicher? Bin ich geliebt? Darf ich mich frei entfalten?
Wenn ein Kind also morgens nicht in die Kita will oder abends nicht ins Bett, ist das anstrengend, aber was sagt das Kind damit? Es braucht noch etwas mehr Bindung oder mehr Autonomie, vielleicht fühlt es sich alleine und will nicht getrennt werden, denn Kita und Schlafen sind beides massive Trennungssituationen. Oder es will einfach mehr Selbstbestimmung am Morgen oder am Abend, da gibt es endlos viele Möglichkeiten das mit einzubauen.
Wenn man sich die Zeit nimmt, auf Augenhöhe mit dem Kind zu kommen, wird es viel eher kooperieren, und zwar nicht aus Zwang und aus Angst, sondern aus Liebe und Respekt. Denn dies kann nur auf einem Nährboden aus Liebe und Respekt wachsen.
Erziehung nach dem neuen Testament
Ich finde die autoritären Erziehungsmethoden ähneln Teilen des alten Testaments: Regeln, Drohen, Strafen und auch Gewalt wurden angewandt, um Menschen zum guten Handeln zu bringen, während Bindungs- und beziehungsorientierte Erziehung sehr nach dem neuen Testament ausgerichtet ist. Die Grundlage ist innige Beziehung, Liebe, Vertrauen, Kommunikation. Keine Regel steht über der Liebe. Deshalb verstehe ich es so schwer, warum früher und leider auch heute noch Christen so alttestamentlich voller Überzeugung ihre Kinder meinen zu erziehen.
Der gute Kern des Menschen
Ich wurde früher von dem Glaubenssatz „Der Mensch ist von Grund auf gut“ gewarnt. Das sei vom humanistischen Geist durchzogen und würde den Menschen letztendlich auf Gottes Thron stellen. Doch heute merke ich beim Aufarbeiten meiner Geschichte, dass der gegenteilige Glaubenssatz „Der Mensch ist von Grund auf schlecht/böse“ so unfassbar viel Schaden angerichtet hat – nicht nur bei mir.
Ich glaube das heute definitiv nicht mehr und ich bin froh für mich erkannt zu haben, dass Gott uns gut geschaffen hat, voller Licht für diese teils sehr dunkle Welt und bedingungslose Liebe im Herzen. Klar passiert auf der Welt so viel Schlimmes, aber nicht, weil Menschen so schlimm sind, sondern weil so viel Schmerz zu noch mehr Schmerz führt. Immer wiederkehrende Traumareaktionen sind das, was diese Welt so bedrohlich und dunkel scheinen lassen kann.
Doch selbst bei dem finstersten Menschen gibt es einen Kern der gut ist, weil er im Ebenbild Gottes geschaffen einfach gut ist und der im Mutterleib voller Liebe und Achtsamkeit von Gott erdacht und geformt wurde.
Wie ich meine Kinder sehen will
So möchte ich auch als Mutter auf mein Kind schauen: es ist gut, es ist voller Licht.
Meine Aufgabe ist nicht, das Böse rauszuerziehn durch Strafen und Drohen, sondern das Licht zu befreien durch Verbindung und Vertrauen.
Dieser Blick auf Kinder ändert so viel und Gott gibt mir dazu viel Frieden darüber. Wenn mein Kind also anders handelt als ich es gern hätte, wenn es „Nein!“ schreit und wegrennt, dann möchte ich mich davon nicht triggern lassen (wiederkehrende Traumareaktion), sondern sehe den Schmerz des Kindes, die Not, der Hilferuf in seinem Verhalten. Ich frage mich, was das Kind gerade braucht.
Denn das sehe ich als meine wichtigste Aufgabe als Mutter: meinen Kindern zu zeigen wie geliebt sie sind, egal wie sie sich verhalten oder fühlen. Denn das ist doch die Botschaft, die Gott uns so deutlich zeigt durch Jesus.
Fragen:
- Was stellst du dir unter alttestamentlicher bzw. neutestamentlicher Erziehung vor?
- Hast du Beispiele?
- Wie ist dein grundsätzliches Menschenbild? Was hat es geprägt bzw. geändert?
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