„Und da frage ich mich schon, ob wir überhaupt noch sowas brauchen: Gemeinden, wie sie existieren. Oder ob man nicht einfach mal alles auflösen und ganz neue Strukturen entwickeln sollte. Weg vom Sonntagsgottesdienst, weg von Christenblasen, hin zu kleineren Strukturen, die Anbindung an das ECHTE Leben da draußen haben!“ Ich sitze am Küchentisch, es ist Freitagabend, und ich rede mich ein bisschen in Rage. Manchmal mache ich das gern, vor allem, wenn es um das Thema Gemeinde geht (das hat man in meinen bisherigen Artikeln noch gar nicht gemerkt, oder?). Ich denke an meinen letzten Artikel hier, ich denke an Nachrichten, die ich danach bekommen habe: viele Leser:innen haben sich bei mir gemeldet und ihre Geschichten mit Scham und Gemeinde erzählt. Das hat mich sehr berührt und lässt mich umso mehr mit dem Gefühl zurück, selbst anders handeln zu wollen.

Es muss Platz für Vergebung sein

Ich habe in meinem letzten Artikel begonnen, von neuen Narrativen zu sprechen, die ich im christlichen Glauben als notwendig erachte, und habe den Anfang mit Scham(kultur) gemacht. Das mag ich heute noch einmal aufgreifen, denn berechtigterweise habe ich als Reaktion auf den letzten Artikel auch verschiedene Fragen gestellt bekommen: Scham, ja, okay, aber wie genau machen wir das denn dann anders? Und ist es nicht auch unfair, so auszuteilen gegen Gemeinden? Keiner meint es ja böse, wir sind alle nur Menschen.

Ich denke: Ja und Nein. Ich mag mich mit einem „Wir sind alle nur Menschen.“ nicht ganz zufriedengeben, denn: ja, wir sind alle nur Menschen. Wir machen Fehler, wir verletzen, wir werden verletzt. Wir bauen uns Strukturen und Muster, die nicht immer hilfreich sind, egal ob auf individueller oder struktureller Ebene. Aber wir sind auch gemeinsam unterwegs, wir können miteinander und voneinander lernen. Das bedeutet auch, eigenes Fehlverhalten zu betrachten und zu ändern.
Wenn wir von Vergebung als einem der zentralsten Punkte im christlichen Glauben sprechen, dann heißt es nicht nur, dass wir vergeben müssen, sondern auch, dass wir immer mal wieder auf der Seite derjenigen stehen, denen vergeben werden muss. Zu Deutsch: wir bauen ordentlich Mist. Und wir können zumindest versuchen, das weniger zu tun, und uns von anderen darauf hinweisen lassen. „Wir sind alle nur Menschen.“ In diesem Satz muss Platz für Gnade und Vergebung sein, die gleichzeitig nicht zum allgemeinen Abwehrschild gegen Kritik werden darf (an dieser Stelle auch eine Notiz an mich selbst ☺️).

Nicht ohne Scham

Wie machen wir das also anders mit der Scham – oder wie können wir eine Kultur prägen, in der Menschen sich frei(er) fühlen, von sich zu erzählen, mit so wenig Scham wie möglich?

Ich schreibe an dieser Stelle bewusst nicht ohne Scham. Scham ist immer an existierende, soziale Normen geknüpft und deswegen immer in verschiedenen Formen präsent. Die Kunst ist es, ein Setting zu schaffen, in dem diese Hürden so niedrig wie möglich angelegt sind und Menschen zu helfen, darüber zu springen.

Ich glaube, um das Tun zu können, muss ich selbst wissen, wie es sich anfühlt, über diese Hürden zu springen. Ich muss mich selbst verletzlich machen. Vor anderen. Das als erster Schritt ist simpel, banal und herausfordernd gleichzeitig. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich finde das in der Regel sehr unangenehm. Ich wüsste allein schon für mich eine Liste an Themen, über die zu sprechen mir an vielen Stellen unangenehm wäre: mein Körper, manche Gedanken, meine Langsamkeit, einige meiner Texte, um Hilfe fragen.. Scham ist halt auch so tricky, denn sie kratzt nicht am Tun, sondern am Sein. Das löst mitunter sehr existenzielle Fragen aus.

Aber es beginnt immer bei mir. Wenn ich möchte, dass jemand mir gegenüber offen ist, muss ich selbst offen sein. Wenn ich möchte, dass sich jemand nicht schämt für das, was er mir da gerade erzählt, dann muss ich Offenheit wertschätzen, im besten Falle selbst ermöglichen und anstatt Kommentare und Lösungsvorschläge zu bringen, vielleicht vor allem erstmal eines tun: Da sein und zuhören.

Mal bewusst gegen diese Normen handeln

Dennoch glaube ich, dass es mehr als eine individuelle Ebene benötigt. Ich beschäftige mich im Moment viel mit Gemeinde und Gemeindestrukturen und bin immer mehr davon überzeugt, dass es eine Bühne (vor allem im metaphorischen Sinne) braucht, auf der über diese Themen gesprochen wird, genauso wie einen Raum, in dem Verhalten reflektiert werden kann. Ich wünsche mir strukturelle Mehrdimensionalität, und ich glaube daran, dass es diese geben kann.
Wenn auf einer strukturellen Ebene vorherrschende Normen gebrochen oder erweitert werden sollen, dann ist es sinnvoll, manchmal auch bewusst gegen diese Normen zu handeln – und zum Beispiel einfach mal die Pastorin einzustellen, die Antidepressiva nimmt. Oder einen homosexuellen Lobpreisleiter. Gleichzeitig sehe ich auch die Schwierigkeit, dass solche Themen natürlich auch an die Theologie einer Gemeinde gebunden sind und es dementsprechend Gemeinden gibt, die solchen Gesprächen auch keinen Raum geben wollen.

Ein Christentum, das nicht verurteilt

Die Optimistin in mir sagt, dass es dann einfach gut ist, trotzdem zu bleiben und zu versuchen, es anders zu machen. Die Realistin in mir weiß, dass das oft nicht geht und vor allem einen enormen (emotionalen) Kraftakt erfordert, den nicht jede:r geben kann. Und letztendlich braucht es dann eine Entscheidung mit Gott, was da gut, hilfreich und dran ist.

Ich habe das Gefühl, ich könnte zu diesem Thema noch ganz viel schreiben, und ich mag mich in den nächsten Monaten auch noch mit anderen Bereichen beschäftigen, in denen ich es wichtig finde, als Christ:innen neue Narrative zu nutzen. Aber was für mich groß hinter all diesen Themen steht und was mich dazu bewegt, darüber nachzudenken, ist zum einen der Wunsch, Gemeinde noch mehr  einen heilsamen Ort werden zu lassen. Zum anderen ist da die Suche nach einem Weg für ein Christentum, das Unterschiedlichkeit zulässt, ohne einander immer verurteilen zu müssen. Dafür müssen meiner Meinung nach diejenigen mehr gehört werden, denen im Moment noch nicht so viel Raum gegeben wird.

Ich bin mir genauso bewusst, dass ich in diesen Gesprächen manchmal auf der anderen Seite vom Pferd falle: ich habe schnell keine Lust mehr auf „klassische“ Gemeinde-Settings, ich bin genervt von christlichem Slang und christlicher Subkultur.
Meine Herausforderung ist es, diejenigen nicht zu verletzen, die sich darin bewegen; und das heißt genauso auch für mich, respektvoll zu bleiben. Auch in Rage-reden am Freitagabend am Küchentisch.
Mir hat an besagtem Freitagabend übrigens genauso geholfen, eine andere Perspektive zu hören. Sie ließ mich mehr wertschätzen, was in „klassischen“ Gemeinde-Settings passiert, und dass es eine Menge Leute gibt, für die das eine gute Stütze ist. Das hat mir sehr gut getan. Und so, wie mir das gut getan hat, hoffe ich, wir können einander in unseren Perspektiven guttun. Lass uns versuchen, das mehr zu tun. Lass uns neue Narrative finden.