Perfektionismus hat positive Seiten. Zum einen kann er eine gesunde Motivation sein. Perfektionismus kann dazu verhelfen, dass ich wachse oder mich weiterentwickle. Er kann Resultate positiv beeinflussen und zu einem neuen Standard beitragen.

Allgemein mag ich es, wenn wir Menschen mit einem gewissen Standard arbeiten und Dinge gut machen und umsetzen. Ich glaube, dass jeder Mensch von Gott ein gewisses Potential bekommen hat, welches jeder nutzen kann. Warum sollte ich etwas nur irgendwie machen, wenn es doch besser geht? Oft bringt mich diese Frage und das Gefühl der Unzulänglichkeit in einen Zwiespalt. Es zeigt mir dann die negativen Seiten des Perfektionismus. Es entstehen ungesunde Verhaltensmuster und Folgen.

Absoluter Stress

Ich wollte schon immer alles nicht nur gut, sondern extrem gut machen. In der fünften Klasse saß ich unter Tränen und Bauchschmerzen an einer freiwilligen Hausaufgabe, eine der berühmten Knobelaufgaben. Es stresste mich, dass weder ich noch andere sie lösen konnten. Am Ende gelang es mir nur mithilfe des Internets.
Am nächsten Tag in der Schule stellte ich dann fest, dass niemand sonst diese Aufgabe gelöst oder sich überhaupt darum bemüht hat. Wenn ich diese Aufgabe zuhause nicht hätte lösen können, wäre ich unter extremen Bauchschmerzen und Übelkeit in die Schule gefahren. Das Zeichen von absolutem Stress.

Höher, schneller, weiter

Um solche Situationen so gut wie möglich zu vermeiden, entwickelte ich Mechanismen. Ich wurde sehr fleißig, lernte mit einem gewissen Druck umgehen zu können und nach einem hohen Leistungsstandard zu streben. Die Bezeichnung „Workaholic“ (dt.: Arbeitssüchtiger) nahm ich als Kompliment auf. Der Einsatz zahlte sich bis zu einem gewissen Punkt in meinem Leben aus.
Irgendwann funktionierte es nicht mehr und ich war gezwungen, das einzusehen. Vielleicht bin ich doch nicht so belastungsfähig und knallhart, wie ich immer dachte. Auch wenn es mir immer noch schwerfällt das einzugestehen. Denn eigentlich ist die Angst davor, Fehler zu machen so groß, dass ich alles dafür tue, um sie zu vermeiden. Kritik kann tiefe Selbstzweifel triggern. Es gibt nur schwarz und weiß, gut und schlecht. Und es ist ja klar, auf welcher Seite ich stehen will.
Fehler führen zu Selbstverachtung oder auch Verachtung anderer. Faulheit ist ein absolutes No-Go und trotzdem werde ich manchmal dieses Gefühl der Faulheit nicht los. Denn mehr geht immer. Höher, schneller, weiter.

Abwärtsspirale der Produktivität

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich im Kreis drehe. Manche Glaubensgrundsätze sind echt hartnäckig: „Ich bin, was ich leiste. Meine Leistungen bestimmen meinen Selbstwert.“ Habe ich diese Leistung in meinen Augen nicht erbracht, folgen Mechanismen zur Kompensation oder Ersatzleistungen. Es ist wie eine Abwärtsspirale. Wenn mir dann meine Schwächen und Fehler bewusst werden, wird mir die große Diskrepanz zwischen meinem Ist-Zustand und meinem selbst gesetzten Maßstab noch klarer. Das führt zu Druck, der mich antreibt, diesem Maßstab doch gerecht zu werden oder bringt mich in tiefe Stimmungstäler.

Negative Folgen

Ursache von dem Ganzen ist Unsicherheit über mich und der falsche Glaubenssatz, dass meine Leistungen meinen Selbstwert bestimmen. Motivation ist die Suche nach Anerkennung, Annahme und stabiler Identität. Die Folgen sind ungesunder Stress, hoher Druck, Selbstzweifel, Kontrollzwang und eine unverhältnismäßige Leistungsforderung an Menschen in meinem Umfeld und an mich.

Manchmal höre ich: „Jule, sei gnädiger mit dir. Sei nicht so hart zu dir. Du bist anderen zu hart gegenüber. Gönn dir doch mal was.“
Oft sträubt sich dann was in mir. Gleichzeitig ist es etwas, was ich mir wünsche.

„Es reicht, wenn du bist.“

Den alten gegen einen göttlichen Glaubensgrundsatz auszutauschen dauert deutlich länger als ich dachte. Aber ja, es ist schon vorwärts gegangen und viel passiert. Doch der gesunde Perfektionismus scheint in vielen Lebensbereichen noch weit weg zu sein. Umso absurder klingt manchmal die Aussage von Jesus: „Es reicht, wenn du du bist.“ Gleichzeitig ist sie aber auch wunderschön.