Ich schließe die Augen.

Das weiße, klapprige, etwas angerostete Tor zur Einfahrt meiner Großeltern quietscht beim Öffnen. Niemand schaut zum Küchenfenster heraus. Früher sah immer jemand zum Küchenfenster heraus und winkte freudig. Doch auch das geht nun nicht mehr. Die gepflasterte Einfahrt zum Haus ist noch immer steil und grau, ein kleines Beet ohne Blumen auf der rechten Seite, links der Rasen. Ich gehe hinauf zur Eingangstür, auf der einen Seite zwei Stufen, auf der anderen eine kleine Rampe; alles barrierefrei umgebaut. Die Tür ist offen, ich trete ein, stehe im Flur. Ein seltsam vertrauter Duft: Es riecht nach alten Blumen, Leder und Pantoffeln.
Früher wurde man bereits hier herzlich begrüßt und umarmt, schöne warme Pantoffeln standen bereit. Ich hole mir die Pantoffeln selbst aus dem überdimensioniert großen Pantoffelschrank und gehe zur Wohnungstür. Atme ein. Und wieder aus. Drücke auf die Klingel.

Es dauert eine Weile, bis ich ein leises Poltern höre. Wieder eine Weile, dann sehe ich die Silhouette meines Großvaters hinter dem halbdurchsichtigen, gelblichen Gussglas der Wohnungseingangstür langsam näher kommen. Er öffnet die Tür und lächelt. Fast stolpert er über die Schwelle und etwas zu sehr nach vorn gebeugt streckt er mir seine große raue Hand entgegen. Ich umarme ihn und spüre seine kratzige Wange. „Schön. Hallo Arthur!“ Er räuspert sich, seine Stimme klingt seltsam matt und ungewöhnlich hoch. „Komm rein.“ Mein Opa dreht sich um, schlurft ein wenig wankend in die Küche zurück. „Nimm doch endlich mal deinen Stock!“, denke ich. Aber einen Stock braucht mein 85-jähriger Opa nicht. „Ich bin doch noch kein alter Mann!“, sagt er dann immer stolz.

In der Küche ist es stickig und sehr warm. Meine Oma sitzt am Tisch auf ihrem Stuhl und hat eine Decke über ihre Beine gelegt. Sie strahlt mich an und zittert als sie ihre Arme ausstreckt, um mich zu begrüßen. „Schön, dass du uns noch einmal besuchen kommst!“ Ich setzte mich auf die Lehnen des Sofas, viel Zeit habe ich nicht, in einer halben Stunde muss ich wieder los, dann fährt der Zug. Das gelieferte Mittagessen steht noch auf der Arbeitsplatte, es ist aber schon 14 Uhr. „Habt ihr noch nicht gegessen?“ „Keinen Appetit!“, erwidert mein Opa und sein großer faltiger Kopf sackt dabei auf seine Brust. Nach einer Weile sagt er: „Es sieht nicht gut aus…“

Früher habe ich gern mit meiner Oma über alles Mögliche geredet. Immer dann wenn es einmal zu Diskussionen kam, machte mein Opa irgendeinen Witz und lachte meist so laut und herzlich, dass wir gar nicht anders konnten als mitzulachen. Aber heute reden wir nicht viel. Ich finde auch kaum gute Worte oder Themen. Wir schauen in unterschiedliche Richtungen und sind oft einfach still.

Unsere Verabschiedung ist lang und herzlich. Als ich mir schon die Jacke angezogen und die Pantoffeln in den Schrank zurückgestellt habe, trete ich auf Zehenspitzen in die Wohnung um noch einmal zum Abschied zu winken. „Machs gut, Arthur! Wer weiß, wo es hingeht.“ Ohne dass ich wirklich verstehe, antworte ich: „An einen guten Ort.“

Ich öffne die Augen.

Vor drei Wochen starb mein Großvater. Er schlief die Nacht über unruhig, war kurz noch einmal wach, dann hörte sein Herz am Morgen auf zu schlagen. Ich habe viel mit meiner Familie telefoniert; wir alle haben es geahnt, dass es nicht mehr lange gehen wird.

„Immerhin ist er friedlich eingeschlafen.“

„Man muss doch sagen: Es war ein schöner Tod. Ohne Schmerzen und Leid; Zuhause – nicht in irgendeinem Heim! – im Ehebett, neben der Oma.“

„Er ist ja auch wirklich alt geworden und hat so viel Schönes erlebt!“

Viele solcher Floskeln habe ich gehört. Sie mögen alle richtig sein und wahrscheinlich können sie auch Trost spenden. Aber mir halfen sie nicht wirklich weiter. Ich habe mich von ihnen weder verstanden, noch ernst genommen gefühlt und sie vertieften meine Frustration über den Tod meines Opas oft nur noch weiter. In mir wurden Selbstvorwürfe laut: „Ich hätte so viel öfter da sein müssen! Ich wollte doch noch einmal mit einem Opa auf ein Big-Band Konzert gehen. Mein Opa hatte sich so sehr gewünscht, dass ich endlich mal wieder Posaune spiele. Er hätte mir bestimmt gern noch einmal zugehört. Und hätte ich nicht wenigstens noch einmal mit meinen Großeltern beten können? Immerhin will ich Pfarrer werden, das wäre doch das Mindeste gewesen! …“

So war ich zunächst innerlich sehr unruhig und wusste nicht so richtig, was ich tun sollte. Bis mir nach ein paar Tagen ein kluger Mann Folgendes schrieb: „Es ist egal, wie absehbar es ist, dass jemand bald von uns geht. Es schmerzt und reißt einfach ein Loch.“ Kein Trost. Kein aufmunterndes Wort. Aber hier kam meine Seele endlich zur Ruhe. Hier wurde in Worte gefasst, was ich die ganze Zeit fühlte und was in all dem liebgemeinten Trost keinen Platz hatte. Der Schmerz und die Trauer fanden endlich einen Raum.

Vielleicht hast auch du schon einmal einen lieben Menschen verloren, der dir nahestand. Natürlich ist mir klar, dass jeder anders trauert und jeder unterschiedlich viel Zeit braucht. Und das möchte ich respektieren. Aber mir ist in den letzten Wochen bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass wir Trauer und Schmerz in unserem Leben Raum geben und nicht einfach durch voreilige und billige Trostworte vom Tisch wischen. Unsere Seele braucht Zeit und es ist gut, wenn es Trauerphasen gibt, in denen wir mal nicht so produktiv, organisiert und in happy-clappy-Stimmung sind.

Die gute Nachricht ist, dass wir in solchen Phasen niemals allein sind. Wir haben einen Gott, der uns hält, uns beisteht und uns begleitet. Einen Gott, der uns wirklich versteht und uns nicht durch billige Trostworte abfertigt. Einen Gott, der einen Raum eröffnet, den wir für unsere Trauer und unseren Schmerz brauchen.

Ohne diesen Raum hätte ich niemals verstanden, was auf der Beerdigung gesagt wurde. Erst hier wurde ich wirklich über den Tod meines Großvaters getröstet.

„Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich.

Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit.

Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft.

Wir geben diesen Menschen in Gottes Hand.

Jesus Christus wird ihn auferwecken.

Er sei ihm gnädig im Gericht und lasse ihn die ewige Herrlichkeit schauen.

Friede sei mit ihm.“