„Hey komm, ich mach das. Wenn du so weiter machst, werden wir ja nie fertig.“ Ich erinnere mich noch gut an diesen Satz, der an mein ca. achtjähriges Ich gerichtet war, das mühsam versuchte, das erste Mal Kartoffeln für das Mittagessen zu schälen – und dabei einfach zu langsam gewesen sein muss. Letztendlich hat mich meine Mutter an dieser Stelle mit dem Kartoffelschälen abgelöst und in unter einer Minute die gleiche Anzahl an Kartoffeln geschält, für die ich vorher 20 Minuten gebraucht habe. Uff, Langsamkeit kann sehr ineffizient sein. Und überhaupt, mit der Langsamkeit ist das so eine Sache.
Durch Corona waren und sind wir alle mehr oder weniger zur Langsamkeit gezwungen, und weil ich das ganz spannend finde, soll es heute genau darum gehen: Langsamkeit. Entschleunigung.

Als der Lockdown im März kam, habe ich als eines der ersten Dinge überhaupt mehr gelesen – unter anderem den Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny, der mich irgendwie fasziniert hat. Im Mittelpunkt des Romans steht der britische Forscher John Franklin, dessen Charakter für den Roman etwas verfremdet wurde. Während im echten Leben keine besonderen Auffälligkeiten über Franklin bekannt waren, ist John Franklin im Buch ein überdurchschnittlich langsamer Mensch: schon als Kind bekommt er es nicht hin, mit den anderen Kindern Ball zu spielen, weil seine Augen die Schnelligkeit der Ballbewegung nicht erfassen können. Um eine Frage zu verstehen und eine Antwort dafür zu finden, braucht John Franklin super lang, sodass es eigentlich immer schon zu spät ist, wenn er antwortet. Aber er antwortet. Durchdacht, mit großer Zeitverzögerung, dafür tiefsinnig und richtig. Die Langsamkeit zieht sich wie ein roter Faden durch seine Biografie, sodass er selbst im Erwachsenenalter nicht einfach auf Fragen sofort antworten kann und generell immer viel Bedenkzeit braucht. Gleichzeitig durchdenkt er die Sachen und entwickelt so eine großartige Genauigkeit, Gründlichkeit und eine Auffassungsgabe, die auf seinen späteren Expeditionen seiner Mannschaft oft das Leben rettet.

Ich liebe die Idee, einen langsamen Helden als Hauptcharakter für ein Buch auszuwählen. Weil ich mich im Gefühl, für die Welt zu langsam zu sein, so gut wiederfinde. Zu viel nachzudenken. Mit den Dingen, die ich sagen möchte und die ich fühle, einfach nicht hinterherzukommen, und wenn ich dann bereit bin, hat sich – zack – die Welt schon wieder ein Stück weitergedreht.

Wenn ich mich umschaue, habe ich nicht das Gefühl, dass der gesellschaftliche Lebensstil auf Langsamkeit ausgerichtet ist. Da geht es oft um Effizienz, um schnelle Entscheidungen, Reaktionen, und wenig Zeit, um Dinge auf sich wirken zu lassen. Da geht es darum, die Kartoffeln schnell zu schälen (nichts für ungut, Mama. Schon okay.).

Ich glaube, dass viel von diesem schnellen Lebensstil auch aus der Idee kommt, ein Ziel erreichen zu wollen. Und Ziele, die es zu erreichen gilt, sind schon definiert: Schulabschluss. Studium. Ausbildung. Abschlussarbeiten. Das nächste große Projekt auf Arbeit stemmen. Und dann das übernächste. Heiraten. Familie. Oder: sich verändern. Alte Gewohnheiten ablegen. Ein besserer Mensch werden. Oder: die kleinen Ziele im Alltag. Noch schnell den Haushalt machen. Dies organisieren. Da noch kurz hingehen. Morgen dann das Nächste. Ziele sind gute Wegweiser und Antreiber. Nichts von alldem ist schlecht. Aber zwischen Ziel und Startpunkt liegt eben immer auch ein Weg, und mir kommt es oft so vor, als schauen wir uns den gar nicht so genau an, weil wir zum einen so fokussiert auf das Ziel sind und zum anderen oft unfähig, Prozesse in ihrer Prozesshaftigkeit – und damit Langsamkeit – einfach auszuhalten. Vielleicht auch, weil uns auf dem Weg so viel Unfertiges, so viel Imperfektion begegnet.  Dabei ist der Weg der Ort, an dem alles passiert: die Begegnungen unterwegs. Die Stolpersteine. Die Fragezeichen. Die unerwarteten Wendungen. Das Geformtwerden aus dem, was uns eben so auf dem Weg entgegenkommt. Und das ist wertvoll und wild und schön.

Als ich zu Beginn der Corona-Zeit einen sehr stressigen Tag hatte, bin ich nach der Arbeit noch kurz in den Supermarkt gerannt und wollte danach eigentlich nur nach Hause, weil ich noch viel Zeug zu erledigen hatte. Und plötzlich kam mir der Gedanke „Hey, ganz ehrlich: Gott rennt nicht. Er läuft langsam. Und ich darf auch langsam durchs Leben laufen.“

Das hat sich sehr schön und befreiend angefühlt. Denn so sehr ich die Langsamkeit liebe, so sehr fühlt sie sich neben der schnellen Welt oft falsch an. Zu ineffizient. Zu langsam. Zu wenig. Dabei liebe ich es, Ideen eine Weile mit mir herumzutragen, bevor ich sie umsetze. Mich an Gedanken langsam heranzutasten. Den Dingen ihre Zeit geben und die Luft zum Atmen, die sie brauchen. Anderen zuhören, bevor ich mir meine eigenen Gedanken dazu baue. Ich mag das. Und ich lerne immer mehr, dass das nicht nur okay, sondern gut ist. Dass Langsamkeit gut ist. Dass ich Gott in all dem Wahrnehmen und langsamer Gehen viel öfter entdecke als im Sprint. Dass er in der Langsamkeit, im Prozess, im Sein und im Werden wohnt, und dass er mich einlädt, mein Tempo zu drosseln. Durchzuatmen. Langsam mitzugehen und mich dafür genau umzuschauen. Auch zu werden. Das ganze Imperfekte dabei auszuhalten.

Langsamkeit heißt für mich wahrzunehmen und anzuerkennen, dass alles ein Werden ist. Dass die wenigsten Dinge von Jetzt auf Gleich passieren, sondern dass sie wachsen müssen, immer, und dass oft das einzig richtige, was ich tun kann, mich auf diesen Werden-Prozess einzulassen.

Und wenn ich die Langsamkeit nicht durch meine Inneffizienz-Brille betrachte, dann bietet mir Langsamkeit vor allem Raum, um zu lernen. Raum für die Auseinandersetzung und Raum für Wachstum. Sowohl gedanklich als auch an meinen Fähigkeiten. Deswegen möchte ich die Langsamkeit feiern.

Neulich habe ich einen sehr schönen Satz gelesen, der für mich sehr gut dazu passt: Die Seele geht zu Fuß. Wir sind nicht auf durchs-Leben-rennen angelegt. Das mochte ich voll.

Ich hab heute kein Gedicht geschrieben, aber würde euch gern noch diese Zeilen von dem Spoken Word Künstler Marco Michalzik aus seinem Text „Abba (Keine Worte)“ mitgeben:

Du bist nicht nur die Ankunft
Du bist auch schon die Straße
Der Rand
Der Feldweg
Die Rast
Die Oase
Grandioses Geheimnis
Du großes Heimweh
Synonym für zu Hause
Mein Und
Mein Aber
der Weg und das Ziel
Und darauf die Pause
Da sind keine Worte für dich
Abba
Bei dir verorte ich mich.

(Den ganzen Text gibt’s übrigens hier.)