Vor 10 Jahren hab ich mich gefragt:
Wer bin ich in 10 Jahren?
Habe ich dann auch mit InterRail den Kontinent befahren?
Habe ich ein Lied geschrieben,
dass alle Leute lieben?
Bin ich irgendwo geblieben
oder hab ich so getan?
Wohn ich später in Berlin
mit weitem Blick über die Dächer,
und bin unten auf der Straße ein talentierter Herzensbrecher?
Warum bleibe ich ein Freund, der seine Freunde nie vergisst,
und bin jeden Tag glücklich, so wie man halt glücklich ist?

Wenn man gar nichts vermisst, ist alles gut.
Alles in Bewegung, alles gut.
Das Leben ist so schön,
wie es wehtut.

Emma6 – 10 Jahre
(https://www.youtube.com/watch?v=TYl2MAkoXcM)

Ich liebe dieses Lied von Emma6 und habe es in meiner Studienzeit sehr oft gehört. Ein bisschen, weil es etwas melancholisch klingt, ein bisschen, weil da sehr viele meiner früheren Lebensideen drinnen stecken. Ich wollte immer gern in Berlin wohnen oder durch die Welt ziehen. Stattdessen bin ich nach dem Abi erstmal ein Jahr nach Zwickau gezogen. Überhaupt: wenn ich jetzt auf meine letzten 10 Jahre zurückblicke, dann ist – oh, Überraschung – sowieso vieles ganz anders gekommen. Beim Blick in den Kalender habe ich neulich festgestellt, dass es auf den Monat genau 10 Jahre her ist, seit ich in die Christenwelt gestolpert bin. Ich weiß noch sehr genau, wie ich mit 16 auf einem christlichen Festival gelandet bin, dann dachte „Och okay, na kannst ja auch mal beten“ und dann so einen prägenden Gott-Moment hatte, dass ich seitdem daran hängengeblieben bin. Das ist wahrscheinlich auch die Konstante, die sich seitdem durch die letzten 10 Jahre meines Lebens zieht: eine Ahnung von Gott und der Wunsch, mit ihm verbunden zu sein.

Viel Idealismus und Begeisterung

Darum herum hat sich ziemlich viel verändert. Ich glaube, ich bin jetzt genau die Art von Christin, die ich vor 10 Jahren richtig hart verurteilt habe: zu weich, zu wenig Leistung, zu komische, weil zu wenig christliche Sprache. Ich sage inzwischen Sachen, die ich früher falsch und zu wenig straight fand – und ich bin sehr, sehr dankbar darüber. Wenn ich an mein Ich vor 10 Jahren zurückdenke, dann war da zwar viel Idealismus und Begeisterung, aber auch viel Druck und Angst, die ich damals nicht als solche identifizieren hätte können. Angst hat sich in dem Bedürfnis geäußert, in gut und schlecht zu unterteilen, und sich von dem vermeintlich Schlechten fernhalten zu wollen. Druck äußerte sich darin, alles richtig machen zu müssen, und besonders viel Zeit in „christliche“ Aktivitäten zu stecken. Heute weiß ich: man kann gut ohne beides leben. Was ich im Tausch dafür erhalten habe ist Weite, Weichheit und eine größere Ahnung von dem, was Gottes Liebe wirklich sein kann.

Glaubensstufen

Dieses Denken erinnert mich an ein Modell, von dem ich vor einigen Wochen gelesen habe. Es stammt von Scott Peck, der vier Entwicklungsstufen für eine Glaubensentwicklung benannt hat. Glaube hat ja auch viel mit einem Verständnis von Wahrheit zu tun, weshalb er die beiden miteinander verknüpft. Als Stufe Eins beschreibt er die Räuber, die extrem von ihren eigenen Bedürfnissen gesteuert werden und Wahrheit deswegen als am eigenen Bedürfnis orientiert definieren. Als Wahrheit gilt für sie, was sie wollen, weil es ihr Bedürfnis erfüllt. Die Regler beschreibt er auf Stufe Zwei als Menschen, die u.a. häufig in christlichen Gemeinden anzutreffen sind. Gekennzeichnet ist diese Stufe von dem Bedürfnis, in drinnen/draußen oder richtig/falsch zu unterteilen und diese subjektiv erkannten konkreten Wahrheiten an andere vermitteln zu wollen. Auf die Regler folgen in Stufe drei die Rebellen, die entdecken, dass die Komplexität von Wahrheiten größer ist als Richtig und Falsch und sie deswegen hinterfragen. Sie sehen Wahrheit als Machtinstrument, das hinterfragt werden muss, und dass es einen Austausch zwischen den verschiedenen Perspektiven auf Wahrheit geben muss. Und schließlich folgen auf der vierten Stufe die Reisenden. Sie suchen nicht wie in Stufe zwei nach Antworten, sondern nach Fragen. Auf Stufe vier liegt das Verständnis, dass Wahrheit etwas Größeres ist, als wir jemals ergreifen oder durchdenken können – deswegen befinden wir uns auf einer lebenslangen Reise. Außerdem ist Wahrheit kein theoretisch vor sich herzutragendes Konstrukt, sondern etwas, das gelebt werden will und sich dadurch erst entfalten kann.

Zwischen Rebellin und Reisender

Mit diesem Modell kann ich mich sehr gut identifizieren: wenn ich auf die 16-jährige Teenie-Jasmin zurückblicke, ist da viel Reglerin-Sein. „Ich muss diese Dinge tun und jene unterlassen – und du übrigens auch“. Nach vielen Brüchen kam dann die Rebellion und das Hinterfragen; das Gefühl, dass ganz viel nicht mehr zusammenpasst und ich nicht genau weiß, was ich noch glauben kann. Inzwischen sehe ich mich irgendwo zwischen Rebellin und Reisender. Das bringt mitunter viele anstrengende Gespräche, Konflikte und auch eigenes Suchen mit sich. Ich fand rückblickend so vieles leichter, weil die Antworten für mich klarer waren. Gleichzeitig ist diese Reise, auf der ich mich sehe, es so wert. Sie fordert viel, aber noch mehr gibt sie mir, weil ich lerne. Ich lerne, was es heißt, Menschen wirklich zu lieben. Ich lerne, was es heißt, zu vergeben, zu streiten, mein Ego an den richtigen Stellen loszulassen; ich lerne, was vertrauen heißt, weil ich in dieser Unklarheit so viel Gott vertrauen muss. Ich kann Gott sehen: in Menschen, in Natur, in Kunst, in Worten, in Gesten, in Solidarität, im miteinander Wachsen. Mehr, als ich es mit 16 Jahren jemals gekonnt hätte.

Ich bin auch ein bisschen stolz auf die vergangenen 10 Jahre. Auf alles, was geworden ist, auch wenn ich es mir vielleicht nie so gewünscht habe. Nicht zu wissen, wie die Zukunft so werden kann und sich dann von all dem Ungeplanten überraschen zu lassen, ist auch irgendwie schön. (Herausfordernd auch oft, aber schön.) Ich freue mich deswegen auf die nächsten 10. Vielleicht finde ich vieles von dem, was ich jetzt schreibe oder glaube, skurril. Das wäre voll okay. Aber ich hoffe, dass ich mir auch in 10 Jahren noch sagen kann:

Alles in Bewegung,
alles gut.