„Langweilig. Mir ist langweilig.“ Ich schaue auf die Uhr. 5:55 Uhr. Samstag früh. Der letzte Abend war etwas länger. Meine Versuche, diese Sätze zu überhören, führen zu noch mehr dieser Aussagen. Neben mir, nein, auf mir, liegt mein 6jähriger Sohn. Eigentlich müsste er noch schlafen – tut er aber nicht. Ihm ist langweilig. Auch seine Nacht war kurz. Er nimmt seinen Plüschhund und dieser „leckt mich wach“ inklusive menschlich-tierischer Geräusche. Zum Glück ist die Zunge nicht feucht sondern fusselig.
All meine Bemühungen, hier noch etwas Zeit zu gewinnen, laufen ins Leere. Bin halt Sozialpädagoge und kein Diktator. Obwohl, etwas Diktatur wäre gerade angebracht. „Mir ist langweilig.“ Immer noch. Warum mein Sohn immer so früh wach ist, bleibt mir ein Rätsel.
Dankbar trotz Schwierigkeiten
Auch ich mag das frühe Aufstehen – wenn ich allein einen Kaffee trinken, in der Bibel lesen oder auch surfen kann. Langweilig ist mir morgens nicht. Je öfter ich an diesem Morgen dieses „mir ist langweilig“ hören muss, desto mehr möchte ich meine Ruhe. Und ich merke eine innere Unruhe, die sich laut nach außen bemerkbar machen möchte. Ich atme innerlich tief ein und so langsam ändert sich das Bild. Ich blicke ihn an und mich überkommt ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit. Da ist ein 6-jähriger, der keine Scheu davor hat, ohne Ankündigung auf mich zu springen, mir die Zunge rauszustrecken, mich anzumeckern, mich um den Finger zu wickeln, einfach Sachen von meinem Schreibtisch zu nehmen (ausleihen….), neben mir Lego zu spielen und mir zu sagen „ich hab dich auch lieb“.
Aber halt auch ein 6-jähriger, der regelmäßig nachts zu uns kommt, sich quer auf unser Bett legt, gefühlt zwanzig kühlschrankkalte Beine und Hände hat und unsere Nähe sucht. Und der auch wochentags oft meine Stille Zeit sprengt (manchmal will er Geschichten aus der Kinderbibel vorgelesen bekommen – wenigstens etwas). Nicht immer kommt mir das Wort Dankbarkeit gleich in den Sinn. Er hat diese Gabe bei Telefonaten immer reinzuquatschen. Die Gabe der Unordnung und des Kleinstschnipselaufhebens. Eine Gabe sich klammernd an mich zu hängen, wenn ich irgendwo hin will. Die Gabe die Milch im Kühlschrank nicht zu finden. Die Gabe des Frühweckens. Die Gabe des Nichtalleineinschlafens. Und noch ein paar mehr dieser Talente. Aber ich bin dankbar.
Dankbarkeit fordert heraus
Es ist der 03. Oktober 2020. 30 Jahre Wiedervereinigung. Heute vor 28 Jahren bin ich aus meiner Heimatstadt Uelzen ins damals graue Halle gezogen. Ich kannte keine Menschenseele dort. Hatte keine Beziehung zu Halle. Aber ich wusste: Da soll ich hin. Mittlerweile bin ich ossimiliert. Kenne mehr Menschen als ich mir Namen merken kann. Bin fest verwurzelt.
Allerdings gibt es vieles, was mir in/an Halle nicht gefällt: Die Kinderarmut ist nach wie vor erschreckend hoch. Halle ist Verschuldungsmeister in Sachsen-Anhalt. Die Hundehaufen sind weniger geworden, aber immer noch nervig. Hauswände werden farblich verunstaltet. Neben uns ist eine Baustelle seit mehreren Jahren. Ach so, unser Keller ist auch feucht. Meine Hood. Wenn ich jetzt noch mehr drüber nachdenken würde kämen mir sicherlich noch viele andere Dinge in den Sinn.
Aber ich liebe und bin dankbar für diese Stadt. Dankbar für die flachen Fahrradwege, meinen Job, die jungen Menschen mit denen ich arbeiten darf, August Hermann Francke und seine Inspiration, meine Kollegen, meine Gemeinde, andere Gemeinden, meine Hausmitbewohner, meinen Sohn, meine Frau. Dankbar für unzählige andere Dinge, Begegnungen, Menschen.
Dankbarkeit ist für mich immer wieder herausfordernd. Murren und mich ärgern sind immer noch gegenwärtig in meinem Leben. Nicht immer sichtbar, aber schon irgendwie fühlbar.
Woher kommt wahre Dankbarkeit?
„Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch.“ Wie schwer mir das doch oft fällt. Dankbar sein in allen Situationen und Begegnungen, sogar wenn Dinge nicht so laufen, wie ich sie mir vorgestellt habe, ist (m)eine echte Mammutaufgabe. „DAS kannste Schon SO Machen – Aber DANN IST ES Halt Kacke“; ich mag diese Postkarte (darf ich eigentlich für diese Postkarte dankbar sein??). Dankbar sein. In allen Dingen. Bei Sonnenschein. Bei Sturm. Bei Regen. Bei innerer Fröhlichkeit. Trotz Unsicherheit. Und auch wenn äußere Dinge gegen mich stehen und sich stellen.
Aber ich habe verstanden und verstehe immer mehr, dass die Quelle meiner Dankbarkeit nicht Dinge sind. Dankbarkeit hat nicht ihren Ursprung darin, was ich habe oder was ich besitze. Dankbarkeit hängt vielmehr damit zusammen, wer mir Bedeutung zuspricht, wer ich bin und aus welcher Position oder Sicht ich Dinge betrachte.
In dieser Welt gibt es allerdings ein Prinzip, welches voller Lüge und Unwahrheit ist. Ein Prinzip voller Neid und Undankbarkeit. Und da muss ich nach wie vor aufpassen, nicht in die Falle zu tappen. Das Prinzip lautet: „Kannste was – Haste was –– Biste was“. Oder wie Samuel Koch es auch beschreibt: „Tun – Haben – Sein“. Gottes Reihenfolge ist da anders. Das Sein steht an erster Stelle. Und aus diesem Sein heraus darf ich Schönheit betrachten und dafür dankbar sein. Aber ich darf auch Dinge sehen, die nicht mehr oder noch nicht so sind, wie Gott sich das vorgestellt hat. Ich bin dankbar, dass hier noch was kommen wird. Ich bin dankbar, sein Kind zu sein. Erlöst zu sein. Gerettet zu sein. Gesund zu sein. Reich zu sein. Heiler zu sein als noch vor Jahren. Eine Hoffnung zu haben die weit über diese Welt und Zeit hinaus geht. Eine Berufung zu haben in der ich leben darf. Und so viel mehr.
Wollt‘ ich meinem Gott für alles Dank nur sagen, hätt‘ nimmer Zeit ich noch zum Klagen.
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