Mir war als ob der frische Sauerstoff gar nicht meine Lunge füllte – andere Gerüche und Elemente übertönten diese Reinheit. Obwohl ich seit einigen Minuten draußen an der frischen Luft war, umgab mich immer noch ein Geruch von Tabak – alter, abgestandener Tabak. Der Geruch hing nicht in der Luft – sondern an meinen Kleidern. Und diese rochen als ob ich sie mehrere Tage in einer Raucherkneipe der 80er Jahre (kleine Fenster, eher im Keller, etwas dunkler, Rauchschwaden in der Luft) hängengelassen hatte und nun anzog. Dieser Geruch dauerte mehrere Stunden an. Viel länger jedoch gingen mir die vorab vergangenen 90 Minuten nach.

Eine andere Welt

Prekäre Lebensverhältnisse.. man kann sie beschreiben als eine erhöhte Problemkonzentration in den Lebensverhältnissen einzelner Personen aber auch Familien. Da haben sich kluge Leute mal wieder eine nette Formulierung ausgedacht. Auch früher gab es dafür Wörter. Einige davon gibt es noch – andere Ausdrucksformen gehen aufgrund einer „political correctness“ nicht mehr.

Als ich die Wohnung der Familie betrat so betrat ich zeitgleich eine andere Welt. Stapelweise Kisten, die seit dem Umzug vor fünf Jahren nicht oder nur halb ausgepackt wurden. Hygienemaßnahmen die nicht dem geringsten Standard entsprachen. Kinderbetten ohne Matratzen – stattdessen Haare, Heu und Stroh von/für die Kleintiere, wenig Tapete – kaum Farben, Ecksofas zum Schlafen, mehrere große Bildschirme. Und mittendrin nun ich und die Familie. Bildung und ein regelmäßiger Schulbesuch haben hier erst mal keine Priorität – dies musste ich einsehen und mir auch eingestehen. Hier begegnete mir eine große Not, ein Lebensstil, der nicht meiner war und eine Familie, für die ich vielleicht sogar eine wohlwollende Ablenkung im sonst tristen Alltag war. Nach 90 Minuten war alles vorbei. Als ich dann mit Kollegen über das Erlebte sprach, waren meine Worte nicht von Wertschätzung geprägt. Nicht von Verständnis. Eher von Unverständnis. Von Unzumutbarkeit. Von…

„Es war der Heilige Geist, der mich überführte.“

Und irgendwann später schämte ich mich für diese Worte und auch Gedanken. Es war der Heilige Geist, der mich überführte. Die Welt, die ich vorhin betrat, war mir ja nicht neu. Das erste Mal erlebte ich diese Lebensrealität vor sehr vielen Jahren. Damals in Schottland – zusammen mit der Heilsarmee. Familien in einem sozialen Wohnungsbauprogramm. Gewalt auf der Straße und auch in den Familien. Berge von Speermüll vor und in den Häusern. Spartanisch eingerichtete Wohnungen. Mehr leere Flaschen in der Wohnung als Bücher. Betten, die sich die Familienmitglieder teilen mussten. Klamotten, die dreckig und voller Löcher waren. Prekäre Lebensverhältnisse. Hoffnungslosigkeit. Resignation. Perspektivlosigkeit. Wut. Zorn. Selbstablehnung. Verlorenheit.

Damals hatte ich einfach nur einen barmherzigen Blick auf diese Menschen, die Jesus nicht kannten und wünschte mir/ihnen sie würden ihm begegnen. Seiner Liebe. Seiner Vergebung. Seiner Ordnung. Seiner Güte. Seiner Versorgung. Heute habe ich oft einen zu stark professionellen Blick (der mich manchmal tatsächlich ankotzt..). Dieser Blick wird mehr und mehr anstrengend, da er eine Norm als Grundlage hat, die von Menschen festgelegt wurde. Wer oder was ist „normal“? Wer entscheidet hier eigentlich über irgendeinen zu erreichenden Standard? Was ist prekär – was nicht? Wie viel Leid ist (gesellschaftlich) erträglich?

„Geprägt von einem Leben ohne Gott.“

Wie dem auch sei. Die echte Herausforderung ist nicht die Ordnung oder Unordnung der Wohnung. Nicht die gepackten oder ausgepackten Kisten. Nicht das Sichtbare – sondern das Unsichtbare oder nicht mehr Sichtbare.
Menschen sind geprägt. Geprägt durch andere Menschen, der Herkunftsfamilie, Erfahrungen, erreichte Ziele, Misserfolge, einer wertschätzenden Haltung, gespürter Ablehnung – und geprägt durch Leben in einer gefallenen Welt gepaart mit der eigenen Sünde. Geprägt von einem Leben ohne Gott. Ohne ihren Schöpfer. Das ist die eigentliche Baustelle. Und bevor ich hier falsch verstanden werde – auch Christen können in prekären Lebensverhältnissen sein. Aber dann kann ihr Leben dennoch gefüllt sein mit Freude. Hoffnung. Annahme. Liebe. Manchmal mehr, manchmal weniger davon; aber immer ein wenig.

Jesus sagte und sagt immer noch: Gehet hin in alle Welt. Bald werde ich dort wieder zu Besuch sein – in dieser Welt. Ich werde dort auf- und eintauchen. Und ich möchte etwas Himmel mit reinnehmen in diese – aus meiner Sicht – dunkle Welt. Weil jeder es wert ist. Und – das ist das Interessante – ich mich gar nicht so unwohl fühle in dieser „Nicht-meiner-Welt“. Auch nicht fremder als woanders. Vielleicht weil ich Dunkelheit kenne. Vielleicht weil ich weiß, wer ich bin – und wer ich wäre – ohne Ihn.

Wahrscheinlich ist das Antonym von innerlich-prekär einfach Jesus.

DC Talk – https://www.youtube.com/watch?v=sQoK_ryT3uc – In the light