Ich liege auf dem Sofa meines alten Kinderzimmers, habe Kopfhörer im Ohr, höre leise, eher ruhige, Musik und versuche, die letzten Stunden zu begreifen und einen klaren Kopf zu bekommen. Unerwartet und plötzlich – mitten im Nachdenken – habe ich ein klares inneres Bild, welches deutlich zuerst in den Gedanken und dann vor meinen Augen auftaucht.
Ich sehe eine Gestalt, schattiert und verschwommen. Diese Erscheinung wird größer und der Hauptfokus liegt auf den Hals aufwärts. Das Gesicht ist nicht deutlich zu erkennen. Die beiden Hände dieser Person tauchen langsam auf und heben einen Siegespokal hoch. Frei nach dem Motto: Winner!!!!
Und auf einmal – in einer Art Zeitlupe – verschwindet dieser Pokal und diese Person hält ein Kreuz hoch. Es ist, als ob sich zwei Bilder überlappen – das Erstere verschwindet und nur das Zweite bleibt letztlich sichtbar.

Abschiedszeit

Noch am Nachdenken und Staunen klingelt mein Telefon. Ich schaue auf das Display. Eigentlich möchte ich nicht abnehmen. Nach ein oder zwei tiefen Atemzügen gehe ich ran. Am anderen Ende ist meine Mutter. In brüchiger Stimme sagt sie mir, dass mein Vater gerade verstorben sei. Mein Vater: Heute früh hatte ich ihn das letzte Mal lebend gesehen. Er konnte nicht mehr sprechen, war vielleicht auch nicht mehr ansprechbar. Ich weiß nicht, was er noch von dieser Welt mitbekommen hat.
Ich nahm mir trotzdem Zeit. Zeit um Danke zu sagen. Zeit um Abschied zu nehmen. Zeit um letzte Worte zu sagen. Weder konnte noch wollte ich dort in seiner Nähe bleiben. Das war irgendwie zu viel für mich.
Als ich dann aus dem Hospiz ging brauchte ich erst mal frische Waldluft, nen Kaffee und ne Kippe. Unzählige Gedanken schossen in meinem Kopf hin und her. Gedanken der Begegnungen und Gespräche. Gedanken über Gott und diese Welt. Gedanken über die scheinbare Endlichkeit des Seins. Ich wollte allein sein. Runterkommen. Bis dann dieses klare Bild auftauchte.
Letztlich wusste ich genau, wen ich dort sah. Ihn, meinen Vater. Das Kreuz hochhaltend als Zeichen. Ich fuhr wieder zurück ins Hospiz und dort waren auch meine Mutter und Geschwister. Noch einmal waren wir alle in seinem Raum. Aber er war nur noch eine Hülle.

Dankbarkeit und Hoffnung

Ich weiß, dass Gott auch durch Bilder und innere Eindrücke spricht. Aber so oft ist dies bislang nicht die Kommunikationsform zwischen uns gewesen. Diese klaren Bilder gepaart mit einem klaren Wissen hatte ich nur einige Male in meinem Leben. Aber immer wegweisend. Und nun die Hände, das Kreuz hochhaltend. In der Rückschau dieses Ereignisses paart sich Dankbarkeit mit Hoffnung – und dies trotz der Schmerzen und des Verlustes. Ich weiß bei wem er ist.

Dies alles ist einige Jahre her. Dieses Bild des siegreichen Überwinders sehe ich aber immer wieder. Gerade in den letzten Monaten beschäftigt es mich wieder mehr oder auch wieder neu. Das Kreuz. Der Sieg des Kreuzes.

Der Schatten der Realität

Mir wird immer deutlicher, wie sehr ich doch diesen Sieg und auch diesen Blick brauche. Der Blick zum Kreuz aber auch der Blick aus Kreuzesperspektive. Mein Umfeld und auch mein Leben sind nämlich bei weitem nicht so, wie ich mir das wünsche.
Ich bin konfrontiert mit der Realität dieser gefallenen und vergänglichen Welt. Und dazu gehört auch dies: Böse Menschen. Menschenverachtende Taten. Wenig Liebe. Wenig Respekt. Hoffnungslose Gestalten. Junge Menschen ohne Perspektive. Eigene dumme Gedanken. Merkwürdige Reaktionen meinerseits auf unterschiedliche Herausforderungen. Und so vieles mehr.

Ich frage mich, wen oder was ich hochhalte. Welche Siege ich feiere. In oder auch durch welchen Sieg ich lebe. Und zu oft erlebe ich, dass ich meine scheinbar eigenen Siege nach oben hieve. Ich präsentiere sie mit Stolz – gepaart mit Eigenlob – äußerlich verpackt mit einer christlich angehauchten Demut: Dinge die ich erreicht habe. Situationen, die ich gemeistert habe. Gute und barmherzige Werke. Letztlich halte ich mich selbst hoch und präsentiere mich. Manchmal mehr Schein als Sein. Dies möchte ich immer weniger und eigentlich gar nicht mehr.

Veränderung durch das Kreuz

Aber dies ist Gott sei Dank nur ein Teilausschnitt meiner zunehmenden Wirklichkeit. Denn es gibt dieses Kreuz nicht nur in einem netten Bild, sondern auch in der realen Realität. Das Schöne ist: Der Kreuzessieg ist unabhängig von mir. Der Sieg hat seinen Ursprung nicht in mir – aber er ist für mich. Das ist genial. Ich darf ihn erleben und sogar davon erzählen – Botschafter sein. Und so durfte und darf ich dieses Kreuz immer mehr kennenlernen. Es ist dort, wo alles Negative zum Positiven verändert werden kann. Aus Hass wird Zuneigung und Liebe. Aus Resignation wird Hoffnung. Aus Lebenstrauer wird Lebensfreude. Aus Perspektivlosigkeit wird Ewigkeitshoffnung. Dies fängt bei mir an – bleibt aber nicht bei mir stehen. Ich wünsche mir, dass dieser Kreuzessieg immer mehr durch mich fließt. Dies gelingt mal mehr und auch mal weniger. Ich bin halt immer noch ein Pilger.

Jetzt – kurz vor Ostern – werde ich mir Zeit nehmen, dieses Kreuz immer wieder anzuschauen. Still zu werden. Es innerlich hochzuhalten. Es zu genießen. Dankbar sein. Begreifen kann ich es nicht. Es ist unfassbar. Aber real.

„Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ – 1. Kor 15,55