Heute sah ich ihn wieder. Halb gebückt lief er an mir vorüber. Seine Augen, sein ganzes Gesicht – nicht zu erkennen. Eigentlich gar nicht zu sehen. Wie ein Schleier, den er um sich hatte, zog eine Wolke von erlebter Abgrenzung und Ablehnung mit ihm mit. Ein treuer Begleiter, den man keinem wünscht – denn letztlich führt er Gefangene mit sich.
In den letzten Wochen und Monaten häufen sich diese Art von Begegnungen. Manchmal nur kurz und unterwegs. Oft aber in Gesprächen mit Kindern und jungen Menschen, die nicht in die Schule gehen, weil sie sich ausgegrenzt und gemobbt fühlen. Und dann sehe und fühle ich diesen Schleier. Traurigkeit. Einsamkeit. Depressionen. Suizidale Gedanken. Und so viel mehr. Ausgrenzung verändert Kinder und Jugendliche – und dies nicht zum Guten.
„Aber ich war nicht nur Opfer. Irgendwann wurde ich zum Täter“
War das eigentlich schon immer so? Diese Frage habe ich mir in den letzten drei Monaten oft gestellt. Im Sinnen über diese Frage denke ich auch über meine eigenen Ausgrenzungserfahrungen nach. Und ich stelle fest, dass es dies auch in meiner Kindheit und Jugend gab. Auch in meinem Leben. Freundschaftsbemühungen, die nicht erwidert wurden. Geburtstage, an denen man nicht eingeladen wurde. Ein Nichtwahrgenommenwerden von Erwachsenen. Gefühlte permanente Kritik einiger Lehrer. Ein „es dem anderen nicht recht machen können“.
Wahrscheinlich hat jeder solche Erfahrungen gemacht. Und jeder geht anders damit um. Resilienz halt – wie es so schön in der Fachsprache heißt.
Ich habe auf jeden Fall versucht, diese schmerzlichen Erfahrungen mit Coolness zu bekämpfen und zu kompensieren. Geglückt ist es mir – in der Rückschau meiner Jugend – eigentlich nie. Vielmehr wurden mir Dinge, Situationen und einige Menschen egal und mein Mittelfinger war oft länger ausgestreckt als eingeknickt. Aber ich war nicht nur Opfer. Irgendwann wurde ich zum Täter. Ich grenzte aus. Machte meine Späße. Erhob mich über andere. Das alles fühlte sich gut an. Machtvoll. Gewaltvoll. Beherrschend. – war aber auch nur ein Schrei nach Liebe. Und mit jeder Erfahrung der Ausgrenzung, mit jedem Schmerz wurde mein Herz härter und härter. Bis ein Wunder geschah und es umgeformt wurde von dem, der mich erschaffen hat. Und er ist nach wie vor dabei. Ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.
Ausgrenzung in Gemeinde
Es gibt Dinge und Situationen, die ich wirklich hasse. Und eines davon ist Ungerechtigkeit. Ausgrenzung ist ungerecht. Egal ob in der Schule. Auf Arbeit. In der Ausbildung. Im Freizeitbereich. Im schlimmsten Fall sogar in der Familie. Auch gesellschaftlich erlebe ich momentan eine starke Ausgrenzungstendenz. Die ganzen 1-2-3G’s und Plus’s. Ich habe da so meine Fragen. Ich verstehe die Hintergründe und auch das Ansinnen. Kann und will aber schon längst nicht mehr alles abnicken. Ausgrenzung von Menschen ist aus meiner Sicht falsch. Wobei dies nicht bedeutet, dass jeder überall dazugehören muss oder sollte.
Und dann betrachte ich Gemeinden. Gemeinden, die Orte der Barmherzigkeit Gottes sein sollten. „Rettungsschiffe“ – wie Reinhard Bonnke dies mal sagte („Die Gemeinde ist kein Vergnügungsdampfer, sondern ein Rettungsboot!“). Auch Bill Hybels bezeichnete die Ortgemeinde als „Hoffnung für die Welt“. Beide haben recht. Dennoch: Ausgrenzung findet auch in Gemeinden statt. Einige sind halt nicht willkommen – zumindest nicht überall. Die Durchgeknallten. Die Homosexuellen. Transgender-Personen. Störende und laute Kinder. Die Nörgler. Die ewig Zweifelnden. Die Anstrengenden. Die Pfingstler. Die Liste ist noch so viel länger. Und ich gebe es ungern zu: Auch ich grenze zumindest in meinen Gedanken Menschen aus. Wen – das verrate ich nicht. Das muss auf meinen Knien mit einem reumütigem Herzen angegangen werden.
Die Gute Nachricht
Umso dankbarer bin ich für die Jahreslosung: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Dieser Vers aus dem Johannesevangelium stellt uns eben genau diesen Jesus vor, dem es nicht darum geht, auszusortieren, wer zu ihm gehört und wer nicht. Wie sehr wir Menschen, wie sehr ich, dies doch brauche: Die Gute Nachricht der Annahme, der Aufnahme und Veränderung – für die, die sich auf den Weg machen und es wollen.
Ich habe mir vorgenommen, ein Botschafter dieser Annahme und Veränderung zu sein. Ich will meine Zeit weniger in die Bekämpfung von Ungerechtigkeit und Ausgrenzung stecken, sondern mehr in das Ausleben und dem Zeigen dieser Annahme, die Jesus schenken möchte.
Euch möchte ich für 2022 etwas mitgeben. Lasst es in und dann durch Euch wirken:
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge.
Ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!(aus: Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung)
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