Es ist sinnvoll, sich auf besondere Momente gut vorzubereiten. Vor einer Rede zum Beispiel. Einem Sportmatch. Einem geplanten Gespräch.
Was mir immer hilft, ist mich und meine Gedanken für einige Sekunden zu sammeln. Dann einmal kurz tief und fest durchatmen. Und dann kann es auch schon losgehen. Dies bewirkt oft eine innere Ruhe. Manchmal kann ich mich besser konzentrieren. Manchmal hilft es mir, mich zu fokussieren.
Auch nach einer Rede oder einem Gespräch hilft mir das Durchatmen. Das alles hat mit mir zu tun. Ich kann es steuern.

Wo ist unser Sohn?

Heute hat das alles nicht geholfen. Zu stark waren die inneren Gedanken. Ich wollte nicht innere Ruhe, sondern schnelle Antworten; Antwort auf die Frage: Wo ist Valentin, unser Sohn. Nix mit tief einatmen. Ich hatte eher das Gefühl, dass sich Fragen, Ängstlichkeit, Unsicherheit, sogar Panik, breitmachen wollten. Nicht nur wollten – sondern auch taten. Sowohl bei mir als auch bei Suse, meiner Frau. Und ich spürte Tränen, die entweichen wollten. Das wollte aber ich nicht. Dafür war keine Zeit.

Ein Blick aus unserem Fenster und schon sehen wir die Schule unseres Sohnes. Mal geht er allein, mal bringen wir ihn, mal holt ihn ein Freund ab. Auch das Nachhausegehen ist kein Problem. Wenn wir ihn nicht abholen sollen, reicht ein Zettel im Ranzen, der dann abgegeben wird – und schon darf er alleine los. Ist ja nicht weit.
Auch heute war so ein Tag. Zwischen 13:30 und 14:00 Uhr sollte er zu Hause sein. 14:00 Uhr. 14.05 Uhr. 14:10 Uhr. 14:15 Uhr. Unser Sohn tauchte nicht auf, also riefen wir im Hort an. Dort sagte man uns, dass er gerade vor 5 Minuten den Hort verlassen hätte. Okay. Dann müsste er zu sehen sein oder gleich klingeln. Aber nichts tat sich. Nach weiteren 5 Minuten ging Suse ihm Richtung Schule entgegen. Unterwegs traf sie ihn jedoch nicht und auf dem Schulhof wiederholte man, dass er vor einiger Zeit losgegangen sei. Und so begann die Suchaktion in den Straßen um uns herum. Als Suse dann nach 15 Minuten allein nach Hause kam und fragte, ob Valentin mittlerweile angekommen sei, entwich in dem Bruchteil einer Sekunde meine Entspannung.

Bilder, die ich nicht beschreiben möchte.

Gedanken ratterten durch meinen Kopf. Nie würde er mit anderen mitgehen. Immer würde er direkt nach Hause kommen. Vor einer Minute war ich mir da noch sicher. Und so wurden die Gedanken mehr und aus den Gedanken wurden Bilder. Bilder, die ich nicht beschreiben möchte.
In all diesem Wirrwarr tauchte aber auch ein mir vertrautes Bild auf. Ein inneres Bild, welches ich nicht zum ersten Mal sah. Ich nenne es mal „ein kleiner Blick in die Zukunft Valentins“. Eine Situation, wenn er ein Teenager sein wird. Und obwohl ich zutiefst überzeugt bin, Gottes Reden vernommen zu haben – die anderen Gedanken und Bilder waren in diesem Moment stärker.

Ich musste zur Schule

Ich wünschte ich könnte jetzt schreiben, dass wir als Ehepaar beteten und während des Gebetes die Hausklingel ertönte. Weder das erste noch das zweite fand statt.
Wir riefen Valentins besten Freund an. Dieser wohnt um die Ecke und war gerade nach Hause gekommen. Er sagte uns, dass er Valentin noch vor einigen Minuten im Hort gesehen hätte. Er wisse aber auch nicht, ob Valentin einfach mit einem anderen Freund mitgegangen sei. Ich sah die Augen meiner Frau und eine zunehmende Traurigkeit und Verzweiflung. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste zur Schule.

Dort angekommen fragten die Erzieher, ob Valentin denn immer noch nicht zu Hause sei. Innerlich dachte ich mir „denkt ihr denn wirklich ich würde dann kommen…“ (ok – es waren ein paar andere Gedanken). Sie wiederholten ihre Aussage, dass Valentin vor einiger Zeit losgegangen sei. Aber ich hatte ja von seinem Freund erfahren, dass er vor wenigen Minuten noch im Schulgebäude gewesen sein muss. Und auch wenn sein Freund manchmal nicht zwischen 5 und 30 Minuten unterscheiden kann – dem musste ich nachgehen.
Sicherlich bemerkte die Erzieherin auch meine Anspannung, gepaart mit der Entschlossenheit, hier nicht wegzugehen, sondern selbst in das Gebäude zu gehen – unabhängig irgendwelcher Regeln und Vorschriften.
Nur eine Minute später kam die Nachricht, dass er noch bei einem Filmprojekt sei. Es gab ein riesengroßes Missverständnis zwischen den Horterziehern. Und als ich ihn dann eine weitere Minute später sah, musste ich mir die Tränen wegdrücken. Er ahnte ja nichts und konnte auch nichts dafür.

Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Vergebung

Ich merke jetzt am Abend, wie mir der Nachmittag nachgeht. Und da sind Gefühle von Dankbarkeit auf der einen Seite, einem Fragen waswärewenn, aber auch einer wirklichen Wut. Eine Achterbahn der Gefühle. Etwas, was wieder zurechtgerückt werden muss.

Nach dem Weichen der Anspannung, dem wieder Atmen können, merke ich jetzt diese Wut. Zorn. Unverständnis. Verärgerung. Groll. Innere Aggression. Wie kann es sein, dass wir mehrmals so eine falsche Aussage von den Erziehern erhalten haben?
Ich möchte das einfach nicht so akzeptieren. Und schon steigt der Zornespegel wieder etwas an.

Letztlich gibt es aber nur eine einzige Möglichkeit, damit klar zu kommen. Und dies ist Vergebung. All diese aufgezählten Gefühle dürfen mich nicht beherrschen. Jesus ist der einzige, dem ich erlaube, über mich zu herrschen. Aber Vergebung fällt mir hier sehr schwer – ich muss mich wirklich dazu zwingen. Und ich muss mir vergeben lassen – meinen Zorn, meine innere Aggression. Mein mangelndes Vertrauen.

Eine Frage, die Qualen verursachen kann

Wieder einmal merke ich, dass dieses Fragen waswärewenn überhaupt nichts bringt. Es ist ein Spiel mit einer irrealen Wirklichkeitsmöglichkeit. Ein sich reinsteigern. Eine Frage, die Qualen verursachen kann. Zumindest heute hat diese Frage letzteres getan. Mir wird wieder einmal bewusst, dass ich viel weniger in der Hand halten kann als ich möchte. Ich kann nicht alles kontrollieren. Nicht alles steuern. Nicht alles erklären. Ich merke, dass ich viel zerbrechlicher bin als ich manchmal denke oder tue. Halt nicht immer der Last Boyscout. Den ganzen Abend schon schwirrt ein Lied in meinem Kopf. „Learning to trust in you“ von David Meece.

Jetzt ist auch Zeit und Raum für die Tränen

Valentin mag Geschenke. Wer mag das nicht. Und damit er öfter welche bekommt, hat er sich vor einigen Monaten ein kleines Spiel ausgedacht. An einer Stehlampe im Wohnzimmer hat er drei farbige Klammern angeheftet. Für jeden von uns dreien eine mit der jeweiligen Lieblingsfarbe. Und jeder darf dem anderen mal was an die Klammer tun. In den ersten Wochen gab es die (manchmal ausgesprochene) Erwartung, dass an seiner grünen Klammer was hängt. „Wann hängt denn bei mir wieder was“, „oh – schon wieder nichts“, „bei mir hing noch nie was“ usw. Heute Abend sah ich an meiner Klammer etwas hängen. Ein Band mit Buchstabenperlen. „Ich liebe Dich Papa“ steht drauf. Gestern hingehangen. Und jetzt ist auch Zeit und Raum für die Tränen. Der letzte Druck geht mehr und mehr. Ich bin mehr als dankbar.