Im Leben gibt es irgendwann immer diesen Punkt, an dem man lernen muss, auf eigenen Beinen zu stehen. Zu Beginn dreht es sich dabei tatsächlich wortwörtlich um das Stehen auf eigenen Beinen. Doch mit der Zeit werden die Verantwortungsbereiche größer. Schließlich wird von jedem Kind erwartet, dass es sich weiterentwickelt. Anfänglich wird es von allen bejubelt, wenn es den ersten Schritt macht, das erste erkennbare Gesicht malt oder endlich so gut isst, dass man das Lätzchen weglassen kann. Doch irgendwann lässt die Euphorie nach und eine Erwartungshaltung stellt sich ein. Wir erwarten, dass sich Menschen auf eine bestimmte Art benehmen, bestimmte moralische Werte haben und vor allem, dass sich jeder in unser schönes System einfügt. Jeder, der dies nicht tut, wird schief angesehen und gefragt, warum er sich nicht verhält wie alle anderen.

Dieses Phänomen ist wahrscheinlich in allen möglichen Umfeldern zu beobachten, weil es so menschlich ist. Wir brauchen eine gewisse Einheit als Gesellschaft oder Gruppe, um gut miteinander auszukommen. Dafür schaffen wir uns Regeln und Gesetze, um die Einheit aufrecht zu halten und bestrafen diejenigen, die diese Regeln brechen. Ich meine damit nicht immer in erster Linie eine juristische Strafe, auch ein Blick kann schon strafend sein.
In christlichen Kreisen scheint diese Art der Gleichschaltung auch sehr weit verbreitet zu sein. Jeder Gemeinde hat eine bestimmte Ausrichtung und Struktur, welche Sicherheit schafft.

Das fängt beispielsweise schon bei der Kleidung an. Während es in manchen Gemeinden üblich ist, sehr leger gekleidet zu sein, legen andere wiederum Wert auf einen vornehmen Stil. In manchen Gemeinden tragen Prediger Jeans und T-Shirt. In anderen Konfessionen tragen Pfarrer und Priester Gemeindeübergreifend alle die gleiche Kleidung. Menschen einigen sich auf einen gemeinsamen Nenner, um Sicherheit zu erlangen. Die Sicherheit bezieht sich letzten Endes einfach nur darauf, dass man sich nicht gegenseitig auf die Füße tritt oder indirekt beleidigt. Man versucht ein System zu schaffen, in dem man gut miteinander klar kommt, vorausgesetzt man passt sich an.

Ich habe jedoch bemerkt, dass solche Systeme (völlig egal ob christlich oder nicht) dazu führen können, dass Menschen sich entweder aus Gemütlichkeit anpassen oder nie wirklich in die Gruppe integriert werden, wenn sie sich nicht anpassen können oder wollen.

In den letzten Jahren ist mir klar geworden, dass ich mich auch sehr häufig an meine jeweiligen Umfelder angepasst hatte. Ich vermied gern Konflikte und war zudem auch häufig zufrieden mit der Gemeinschaft an sich, weshalb ich dies nicht kaputt machen wollte und die bestehenden Strukturen häufig nicht hinterfragte. Doch seit ich von Zuhause weggezogen bin und anfing in meinem Leben auf eigenen Beinen zu stehen, kam ich nicht mehr um die Fragen herum: Was glaube ICH eigentlich? Wie kann ich meinen Glauben leben? Und wie will ich meinen Glauben leben?

Früher hätte ich nicht gedacht, dass ich mal an solch einen Punkt kommen würde, weil ich innerhalb meiner christlichen Blase häufig rebellisch war und mich nie ganz anpasste. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich viele Dinge einfach nur aus Gemütlichkeit tat und dass mir mein Herz etwas ganz anderes sagte.

Heute bin ich ehrlicher. Ich habe angefangen, viele Dinge die ich lange Zeit tat, stark zu hinterfragen. Langsam komme ich an einen Punkt, wo ich verstehe, wer ich selbst eigentlich bin, welche Gaben Gott in mich hinein gelegt hat und wie ich diese auf eine gute Art nutzen kann.
Ausschlaggebend dafür ist, dass mir etwas ganz Grundlegendes und Wichtiges neu bewusst geworden ist.

Jesus ist für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben. Das heißt, Gott hat es nicht nötig, die Menschen nach ihren guten Taten oder ihrem richtigen Verhalten zu beurteilen. Er hat uns eine große Freiheit geschenkt, die wir nutzen dürfen. Ob wir dies zum Guten oder Schlechten tun, entscheiden wir selbst, doch wenn wir an Gott glauben, wird er uns nicht in erster Linie an unseren Fehlern bemessen, sondern an unserem Glauben selbst. Das heißt, dass alles, was wir aus dem Glauben heraus tun, für Gott einen großen Wert hat. Dabei ist es nicht wichtig ob uns alles gelingt. Wir müssen nicht perfekt sein, damit Gott uns mag und vor allem müssen wir nicht so tun als wären wir es.

Mir ist mit der Zeit klar geworden, dass es Gott nicht darum geht, dass man irgendeine bestimmte Form wahrt. Ihm ist es wichtig, dass man ehrlich zu ihm und auch zu sich selbst ist. Außerdem ist der Glaube an sich nicht gebunden an ein religiöses Korsett. Das heißt, dass sich Glaube nicht in erster Linie um Regeln dreht, sondern darum, dass man Gott, sich selbst und seinen Nächsten lieben soll.

Am Anfang habe ich geschrieben, dass wir immer wieder an Punkte kommen, an denen wir lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich bin der Meinung, dass dieser Prozess des sich Abnabeln und selbstständig werden, ein Leben lang anhält. Mit der Zeit wird es jedoch schwieriger, weil wir uns häufig starre Systeme erschaffen. Ich bin mir sicher, dass Gott uns ganz bewusst zu individuellen Menschen gemacht hat. Wir sollen die Möglichkeit haben uns zu emanzipieren und unseren eigenen Weg mit Ihm gehen, anstatt einfach nur gleichgeschaltet in den Tag hinein zu vegetieren.

Von daher halte ich diesen Prozess trotz all der Herausforderungen und Ungewissheiten, die er so mit sich bringt für sehr wertvoll. Ich erlebe ihn als eine größere und ehrlichere Suche nach Gott, als wenn ich wie früher einfach unauffällig im System geblieben wäre und mich immer von geistlichen Vorbildern füttern gelassen hätte.

Liebe Grüße,
Claudius